100 Meilen, rund 161 Kilometer, unter die Füße zu nehmen, ist immer ein Laufabenteuer der besonderen Art. Es ist vor allem der Respekt vor der enorm langen Distanz und die Erwartung, wie man die Nacht überstehen wird, wenn man an die Startlinie der 100MeilenBerlin, des Mauerweglaufs, im Friedrich-Ludwig-Jahnsportpark tritt. Der Lauf ist nicht nur ein Wettkampf, sondern erinnert auch an den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 und vor allem an die Opfer, die an der unmenschlichen Grenze ihr Leben ließen.
Am Ende war es jedoch ein sehr schwerer Lauf für mich, auch wenn ich bereits zum dritten Mal dabei bin. Denn ich erreichte das Ziel erst 28 Stunden, 57 Minuten und 45 Sekunden nach dem Startsignal. Das lag sicher auch daran, dass ich nicht so gut vorbereitet war wie bei der Premiere dieses Laufs vor fünf Jahren. Damals haben Sabine Marrée und ich diesen Ultramarathon in 22 Stunden und 15 Minuten gemeistert.
Insgesamt hatte ich bis zum Start 1.135 Trainingskilometer in den Beinen. 2013 waren es 2.083, 2011 1.968 Kilometer. Die wichtigsten Trainingseinheiten hatte ich in diesem Jahr während meines Etappenlaufs von Eichwalde nach Neubrandenburg gesammelt. Wenngleich ich das ursprüngliche Ziel Rambin auf Rügen nicht erreicht hatte, so kamen doch 173 Kilometer innerhalb von drei Tagen zusammen. Das musste als Vorbereitung reichen.
Vorfreude und Ausgelassenheit strahlen die Läuferinnen und Läufer aus, als sie sich zum Frühstück im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark an der Cantianstraße in Berlin treffen. Allen gemeinsam ist, dass sie die 160,9 Kilometer lange Strecke auf dem Berliner Mauerweg unter ihre Füße nehmen wollen, egal ob als Einzelläufer oder im Team als Staffelläufer. Die Helferinnen und Helfer im Stadion haben Großartiges geleistet, am Vorabend den Start- und Zielbereich aufgebaut und in den frühen Morgenstunden das Frühstück für die 370 Ultramarathonläuferinnen- und Läufer vorbereitet und für die Staffelläufer, die erst um 7:00 Uhr starten werden.
An der Startlinie um kurz vor sechs treffe ich Tilo Wilhelm aus Leipzig, den ich im vergangenen Jahr bei einem XXL-Lauftreff der LG Mauerweg kennen gelernt hatte. Wir freuen uns riesig, uns zu sehen. Er wird das Ziel lange vor mir erreichen (23:23:17). Auch Gabriele Eisele begegne ich noch vor dem Start. Sie kenne ich vom Etappenlauf von Berlin zum Brocken im Frühjahr 2016, bei dem ich als Helfer dabei war und die Brocken-Etappe (ca. 60 Kilometer) mitlaufen durfte. Sie wird in der Nacht schwer zu kämpfen haben.
Schon gibt es nach dem Countdown das Startsignal, und die 62 Frauen und 199 Männer machen sich auf den Weg, darunter auch der Musiker Joe Kelly. Vor einigen Jahren lief er allein von Wilhelmshaven zur Zugspitze – rund 900 Kilometer ohne eigene Verpflegung. Er ernährte sich nur von dem, was er unterwegs fand. Gemessen daran bietet der Mauerweglauf heute mit seinen 27 Verpflegungspunkten mit allem was das Läuferherz begehrt, wahren Luxus.
Unter großem Applaus trabt die Menge nach einer Dreiviertel Runde aus dem Stadion und erreicht kurz danach die Bernauer Straße. Das Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin hat sieben Fluchttunnel an dieser Straße dokumentiert. Allein über den 145 Meter langen Tunnel von der Bernauer Straße 97 zur Strelitzer Straße 55 gelang 57 Menschen 1964 die Flucht in ein neues Leben.
Das Feld der Läufer zieht sich nur langsam in die Länge. An der Kreuzung Brunnenstraße bildet sich vor der Ampel ein kleiner Stau. Alle warten geduldig bis das grüne Ampelmännchen aufleuchtet. Schließlich sind wir alle von Rennleiter Hajo Palm eindeutig ermahnt worden, uns strikt an die Straßenverkehrsordnung zu halten. Denn die Strecke auf dem Mauerweg ist nicht abgesperrt.
Den ersten Verpflegungspunkt erreichen wir am Brandenburger Tor. Hier wartet eine besondere Attraktion auf uns. Mauerwegläufer Andreas Deák und weitere Helfer haben am Vorabend eine Mauer aus mehr als 500 Holzziegeln errichtet. Jeder Läufer nimmt einen „Stein“, läuft durchs Brandenburger Tor und wirft ihn in einen bereitgestellten Container. Wir müssen also den Klotz nicht die ganzen noch verbleibenden 154 Kilometer mit uns schleppen.
Flashback in die 80er
In der Zimmerstraße kurz vor dem Checkpoint Charlie fühle ich mich zurück versetzt an einen tristen Novembermorgen der 1980er Jahre. Der Künstler Yadegar Asisi hat hier ein Panorama geschaffen, das die Berliner Mauer in dieser Zeit aus der Perspektive West-Berlins fotorealistisch zeigt. Ich nehme mir Zeit, Asisis Werk zu betrachten. Denn bei diesem Wettlauf kommt es mir nicht auf Schnelligkeit an. Einige Menschen sind auf eine Aussichtsplattform gestiegen und blicken gen Osten. Viel ist nicht zu sehen: Todesstreifen, Spanische Reiter. Auf dem Postenweg patrouilliert ein olivgrüner Trabi der Grenzstreife. Grenzer auf einem Wachturm starren durch Ferngläser gen Westen. Direkt an der graffiti-geschmückten Mauer haben Punker eine Wagenburg errichtet. Auffällig ist das besetzte Haus mit großem Transparent an der Fassade auf Westberliner Seite. An einem Imbiss am Stehtisch lehnen zwei Männer im trüben Morgenlicht. In unmittelbarer Nähe ein VW Käfer an einer Tankstelle, dahinter ein VW Golf der ersten Baureihe. Es gibt noch viel mehr auf dem Panorama zu entdecken, aber ich mache mich nach einigen Minuten auf den Weg, denn es liegen noch gut 150 Kilometer vor mir.
Weiter geht es im Laufschritt durch die Stadt vorbei am Checkpoint Charlie und der Eastside Gallery, die um diese Uhrzeit kaum von Touristen bevölkert ist. Sie ist mit Bauzäunen abgesperrt. Eine Künstlerin ist gerade damit beschäftigt ihr Bild zu erneuern. Das ist leider immer wieder notwendig, da sich unzählige Touristen auf den Bildern mit Edding und Co. verewigen und damit die Werke bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln.
Die Oberbaumbrücke zeigt sich von ihrer schönsten Seite
Bald überqueren wir im Pulk die Spree über die Oberbaumbrücke. Das Bauwerk an dem zu Mauerzeiten die U-Bahn der Linie 1 blind endete fasziniert mich immer wieder, vor allem am Morgen, wenn die Sonne noch tief im Osten steht und die Brücke mit seinen Türmen mit magischem Licht in Szene setzt. Unschön ist der süßliche Urinduft, den Nachtschwärmer hinterlassen haben. In der warmen Morgensonne kriecht er aus den Nischen. Die Stadtreiniger tun ihr Bestes, wenigstens den Müll der vorherigen Nacht zu beseitigen, gegen die menschlichen Hinterlassenschaften flüssiger Art können sie allerdings wenig ausrichten.
Weiter geht es über die Schlesische Straße vorbei am „Club der Visionäre“ ganz in der Nähe vom „Freischwimmer“, ein beliebter Szenetreff am Flutgraben. Ich erinnere mich noch gut, als mir 2013 die Nachtschwärmer aus den Clubs entgegen kamen. Damals führte die Route gegen den Uhrzeigersinn auf dem Mauerweg rund ums ehemalige Westberlin. Einige der Nachteulen zeigten Anerkennung für unseren Lauf. Damals hatte ich mehr als 26 Stunden für die Strecke ums alte Westberlin gebraucht.
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Am Verpflegungspunkt Dammweg bei Kilometer 20 werden wir freudig von den Helfern am Verpflegungsstand begrüßt und fürsorglich beköstigt. Als ich weiter laufen will überrascht mich meine Frau Gudrun mit ihrem strahlenden Lächeln. Ich freue mich riesig. Unsere Nichte aus Wuppertal-Beyenburg ist heute ebenfalls sportlich unterwegs. Miriam startet bei der Deutschen Drachenbootmeisterschaft in Berlin-Grünau mit einer Crew aus Hameln auf der 200-Meter-Distanz. Da will Gudrun unbedingt noch hin. Ich habe auch nicht viel Zeit, will ebenfalls weiter.
Zusammen mit Stefan Bicher nehme ich die nächsten Kilometer unter die Füße. Heute ist er nicht im fleischfarbenen Laufdress, sondern ganz in Pink mit Hut unterwegs. Ein ganzes Stück laufen wir gemeinsam. Stefan ist eine echte Stimmungskanone. Beim Rennsteiglauf war er auch schon mal mit einer Gitarre unterwegs und gab einige Songs zum Besten.
Moni im Dirndl
Rudow, Verpflegungsstation Fünf, Kilometer 31: Ich treffe Monika, jene Frau im Dirndl, die mich vor zwei Jahren liebevoll umsorgt hatte. Damals wirkte es surreal, als sie mich in tiefer Nacht auf scheinbar menschenleerer Straße freudestrahlend mit den Worten begrüßte: „Du siehst gut aus, Jörg! Was möchtest du essen und trinken?“ Mich plagte damals eine bleierne Müdigkeit, so dass ich mich im Halbschlaf laufend seit Teltow dem Ziel, damals im Lobeck-Stadion, entgegen geschleppt hatte. Eine viertel Stunde dösen im Liegestuhl brachte nicht wirklich die große Erholung. Insgeheim hoffe ich, dass es dieses Mal auf dem Mauerweglauf anders kommt.
Nach rund 50 Kilometern fühlen sich meine Beine schon etwas schwer an. Ich achte nicht besonders auf meinen Laufstil, verfalle in den gefährlichen Ultraschlappschritt, hebe die Füße nur so weit wie notwendig. Und schon passiert es. Eine kleine Unebenheit bringt mich ins Straucheln. Während der linke Fuß abrupt stoppt zieht mich meine eigene Körpermasse nach vorn. Ich versuche mich zu fangen, schaffe es aber nicht, kann aber noch etwas abrollen. Eine leichte Asphaltflechte am Knie kann ich jedoch nicht verhindern. „Ist alles in Ordnung?“ fragt der Läufer hinter mir und hilft mir wieder auf die Beine. Ich ignoriere den brennenden Schmerz und laufe mit ihm weiter.
Mauerweglauf erinnert an Karl-Heinz Kube
In Teltow kommen wir zu jener Stele, die an den 17-jährigen Karl-Heinz Kube erinnert. Er wurde bei seinem Fluchtversuch 1966 erschossen. Sein Freund überlebte unverletzt – zumindest physisch. In diesem Jahr ist der Mauerweglauf Karl-Heinz Kube gewidmet. Ein Kranz und ein Blumengesteck sind vor den beiden Stelen abgelegt worden. Denn auch Peter Mädler ließ sein Leben im Todesstreifen ebenfalls an diesem Ort drei Jahre zuvor. Ich halte inne und lese die Informationstafel über die Hintergründe, warum Karl-Heinz starb. Dabei habe ich den Eindruck, dass es hauptsächlich junge Menschen waren, die aus dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ flohen und das mit ihrem Leben bezahlten. Denn Ähnliches hatte ich auch auf anderen Gedenkstelen gelesen. Ebenso wie ich, stand Karl-Heinz auf Rockmusik der westlichen Machart. Er galt als unangepasst. Man wollte ihn wohl in einen Jugendwerkhof stecken, eine „Besserungsanstalt“ für aufsässige Jugendliche. Mir geht durch den Kopf, wie unbeschwert ich zehn Jahre nach Karl-Heinz‘ Tod als 14-Jähriger fröhlich vor mich hin pubertierend jederzeit Musik hören durfte, egal ob sie nun von kapitalistischen oder sozialistischen Musikern stammt, ohne deswegen als Außenseiter zu gelten oder gar drangsaliert zu werden. Während des weiteren Laufs auf dem Mauerweg kam ich noch an vielen Stelen vorbei, die an die Opfer dieser unmenschlichen Grenze erinnern.
Bald erreiche ich die Sporthalle in Teltow, die nicht nur Verpflegungsstation, sondern auch einer der drei Wechselpunkte für die Staffeln ist. Die Staffelläufer waren eine Stunde nach uns gestartet. Sehr viele, vor allem jene, die aus mehr als zehn Läuferinnen und Läufern bestehen, hatten uns langsame Einzelstarter bereits überholt.
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In der Halle erwartet uns eine üppige Verpflegung. Neben belegten Broten, gibt es Süßigkeiten, Kuchen, Kekse, Salzstangen, Obst, Tomaten, Oliven, Gurkenscheiben auch heiße Brühe und Nudeln. Das gibt wieder neue Energie, besonders in der Kombination mit einem halben Liter Radler. Im hinteren Teil der Halle informiert eine kleine Ausstellung über das Maueropfer Karl-Heinz Kube. Einige Läufer nehmen sich die Zeit und lesen die zusammengetragenen Informationen. Ich mache mich aber auf den Weg, notiere meine Gedanken zum Tod von Karl-Heinz Kube auf einer Postkarte, die an einem heliumgefüllten Ballon befestigt ist und lasse ihn wenig später auf freier Strecke in den Himmel über Berlin steigen.
Die Route auf dem Mauerweg führt uns weiter Richtung Zehlendorf, zum Königsweg. Inzwischen ist es ziemlich warm. Ich will nicht den gleichen Fehler wie 2013 begehen und laufe daher seit dem Späten Vormittag relativ langsam und lasse mir an den Verpflegungsstationen reichlich Zeit. Denn vor drei Jahren war ich deutlich schneller unterwegs und hatte nach rund zehn Stunden und 15 Minuten die Hälfte der Strecke hinter mir. Das hatte sich damals in der Nacht in Form absoluter Müdigkeit bitter gerächt. Das will ich in diesem Jahr unbedingt vermeiden.
Durch noble Potsdamer Vororte
Bald erreiche ich die Verpflegungsstation an der Gedenkstätte Griebnitzsee. Hier, bei Streckenkilometer 72, habe ich schon relativ schwere Beine aber keine ernsthaften Probleme mit den Gelenken oder gar mit dem Schienbein, wie ich es noch vor knapp vier Wochen bei meinem dreitägigen Etappenlauf erlebt hatte. Es ist noch alles im grünen Bereich. Bis zum Wechselpunkt am Schloss Sacrow wollen noch 29 Kilometer von mir unter die Füße genommen werden.
Die nächsten Kilometer wird der Mauerweg nicht direkt auf dem ursprünglichen Verlauf des Postenwegs geführt, denn einige Eigentümer der Ufergrundstücke wollen diesen Weg nicht der Öffentlichkeit zugänglich machen. Seit Jahren tobt deshalb ein Rechtsstreit zwischen der Landesregierung, der Stadt Potsdam und den betroffenen Eigentümern. Dass diese ihre Ansprüche geltend gemacht haben, ist zwar einerseits verständlich, aber es ist eben auch sehr schade. Denn entlang des Griebnitzsees ist es landschaftlich wunderschön. Also führt die Strecke zur Glienicker Brücke vorbei an mondänen Stadtvillen und Straßenzügen, wo der Reichtum mehr oder weniger zur Schau gestellt wird.
Glienicker Brücke. Sie war während des Kalten Krieges die Bühne für spektakuläre Agentenaustausche zwischen Ost und West. Direkt hinter der Brücke verläuft die Route in einem Bogen runter zum Ufer der Havel. Zwei mit Warnwesten und Klemmbrettern in der Hand ausgerüstete Streckenposten, passen auf, dass wir keine Abkürzung nehmen. Offenbar freuen sie sich, dass wir uns strikt an die Vorgaben halten. Sie lächeln uns freundlich zu. Wir grinsen freudig zurück. Denn wir sind ja von Rennleiter Hajo ausdrücklich im Briefing vorgewarnt worden, dass Teilnehmer vom Rennen disqualifiziert werden, sollten sie sich nicht an die Regeln halten.
Bier und Schmalzstullen
Weiter geht es durch den Schlosspark Cecilienhof am Ufer der Havel entlang zur Alten Meierei. An diesem Verpflegungspunkt erwartet uns neben der bisherigen Läuferverpflegung ein frisch gezapftes, kühles Helles. Es erfrischt wunderbar! Ich genehmige mir nacheinander drei davon und fülle meine Kohlenhydratspeicher mit Schmalzbroten und Lakritz auf.
Mit Gülay, einer zierlichen Läuferin aus Bonn, komme ich am Verpflegungspunkt ins Gespräch. Sie sieht so jung aus, dass ich sie für eine schnelle Marathonläuferin halte. Ich schätze sie auf Mitte Zwanzig, liege allerdings völlig falsch. Denn sie läuft in der Altersgruppe W 40. Unterstützt wird sie von ihrem Mann auf dem Fahrrad. Vermutlich sind es ihre Geschwister, die ihn ablösen. Gemeinsam laufen wir ein Stück weiter Richtung Schloss Sacrow, wo meine Ausrüstung für die Nacht auf mich wartet. Unterwegs diskutieren wir natürlich über die aktuelle politische Lage in der Türkei und wie die Türken in Deutschland darüber denken. Das schöne an politischen Diskussionen, die man beim Laufen führt, ist, dass man sich niemals streitet. Das wäre nämlich viel zu anstrengend. Außerdem sind wir – was das Thema unseres Gesprächs angeht – ohnehin sehr ähnlicher Meinung. Nach einiger Zeit ist mir aber Gülay doch zu schnell, lasse sie ziehen und wünsche ihr viel Erfolg. Sie wird das Ziel lange vor mir erreichen (26:33:25).
Frisches Shirt und Nachtausrüstung am Schloss Sacrow
Schloss Sacrow, Kilometer 91, erreiche ich 14 Stunden und vier Minuten nach dem Start. Hier lasse ich mir Zeit, bereite mich auf die Nacht vor, tausche das durchgeschwitzte Lauf-Shirt gegen ein Frisches, versorge die wund gescheuerten Hautpartien mit Vaseline, die ein freundlicher Mitläufer im Gepäck hat, schnalle mir meinen Laufrucksack um, genehmige mir noch ein Radler, esse noch etwas und mache mich wieder auf den Weg. Gegen 21 Uhr streife ich die Reflektorweste und die Stirnlampe über und stapfe weiter durch die Nacht.
Freudig werden wir Läufer am Verpflegungspunkt „Pagel and Friends“ bei Kilometer 98 vom Moderator angekündigt und vom Publikum begrüßt. Jedes Jahr macht die Familie Pagel in Kladow aus der Betreuung dieses Verpflegungspunktes eine Garten-Party mit der ganzen Nachbarschaft. Eine tolle Stimmung herrscht hier, mache mich aber trotzdem bald wieder auf die Piste in dem Bewusstsein, dass ich jetzt nur noch rund 63 Kilometer vor mir und schon deutlich mehr als die Hälfte der Strecke hinter mir habe.
Durch die Nacht mit Tunnelblick
Nun kommt sie wieder, diese Müdigkeit wie vor drei Jahren. Der Körper will schlafen. Nur mit Mühe und Konzentration halte ich die Augen auf. Der Lichtkegel der Stirnlampe ist so schmal, dass ich alle paar Minuten das Gefühl habe, in einen erleuchteten Tunnel zu blicken, dessen Wände tiefschwarz sind. Alle paar Minuten lege ich die Handflächen gegen die Schläfen, kneife die Augen zusammen und konzentriere mich darauf, diesen blöden Tunnelblick los zu werden. „So könnte es sein, wenn man harte Drogen genommen hat“, stelle ich mir vor. Trotz der Müdigkeit kämpfe ich mich weiter durch die Nacht.
Ich blicke auf mein GPS-Gerät, weil der Weg von der Straße Richtung Karolinenhöhe abweicht. Aber der Garmin scheint den Track verloren zu haben. Ich kehre um, doch da kommt mir ein Läufer entgegen, der mir versichert, auf der richtigen Route zu sein. Im Gegensatz zu mir hat er eine Stirnleuchte, mit der er eine ganze Kathedrale ausleuchten könnte. Im Fernlicht-Modus brät das Teil sicher 500 Meter weit. Ich finde das ganz angenehm, bleibe bei ihm, kann aber sein Tempo nicht halten und lasse ihn ziehen. Also trabe ich allein weiter mit Tunnelblick.
Endlich erreiche ich den Verpflegungspunkt Karolinenhöhe bei Kilometer 103 und werde freudestrahlend von Andreas (Kramsi) Kramer begrüßt. Ich bleibe fast zwanzig Minuten sitzen, esse und trinke etwas. Flaschen nachfüllen. Ich mache mir Mut mit dem Gedanken, dass es jetzt nur noch etwas mehr als 57 Kilometer bis zum Ziel sind. Weiter geht’s durch die Dunkelheit.
Eine Mütze Halbschlaf in Schönwalde
Schönwalde, Kilometer 116. Es ist viertel nach Eins, als ich fast am Eingang zum Verpflegungspunkt vorbei laufe. Ich hatte ihn weiter hinten vermutet. Aber das war der Ausgang. Die freundlichen Helfer winken mich wieder auf den richtigen Pfad. Mir fallen fast die Augen zu. Ich esse wieder eine Kleinigkeit und lasse erneut die beiden Trinkflaschen nachfüllen. Nur halbvoll, denn ein halber Liter reicht vollkommen bis zum nächsten Verpflegungspunkt. Ein Läufer bietet mir seinen Platz auf dem Liegestuhl an, da er sich gerade wieder auf den Weg machen will. Ein Helfer deckt mich zu. Den Laufrucksack behalte ich an. Sofort falle ich in einen Dämmerzustand und genieße die wohlige Wärme, die den erschöpften Körper durchströmt. Die Beine sind schwer wie Blei. Ich habe Angst, in den Tiefschlaf zu sinken, erkundige mich immer wieder bei den Betreuern, wie lange ich schon liege. Nach 25 Minuten rappele ich mich wieder auf. Das geht erstaunlich gut. Als ich weiter laufen will, sehe ich, Gabriele Eisele, die auf dem Rücken liegend auf der harten Holzbank vor sich hin döst. Den Liegestuhl, auf den ich sie aufmerksam mache, will sie lieber nicht nutzen. Sie befürchtet, dann überhaupt nicht mehr hoch zu kommen. Ich versuche ihr Mut zu machen, rate ihr, positive Gedanke zu finden. Ich trabe weiter durch die Nacht. Insgesamt habe ich in Schönwalde 36 Minuten Pause gemacht.
Käutzchen, Fehlzündungen und ein Radfahrer wie vom fremden Stern
Die Route führt jetzt ein kurzes Stück über die Schönwalder Chaussee und knickt dann nach links in ein Waldgebiet ab. Der Abzweig ist mit einem Baustellenblinklicht so gut markiert, dass er nicht zu verfehlen ist. Allein im Wald. Die Müdigkeit kommt wieder. Ein Nachtkauz ruft. Ich finde das überhaupt nicht unheimlich, finde es sogar schön, in der Nacht allein unterwegs zu sein. Große Lücken in der Wolkendecke geben den Blick auf den Himmel frei. Ich kann einzelne Sternbilder erkennen und freue mich darüber, um mich von der Müdigkeit abzulenken.
An der Niederneuendorfer Allee höre ich schon von Weitem ein Auto mit heulendem Motor und Fehlzündungen heran brausen. Der Fahrer hat offensichtlich Spaß an dem Lärm. Mich nervt das aber. Wenig später kommen mir zwei übereinander stehende, helle Lichter entgegen. Es dauert eine Weile, bis ich realisiere, dass es ein Radfahrer mit Stirnlampe ist. „Ist alles O.K. bei dir?“, fragt er mich. „Alles Bestens“, lüge ich ohne rot zu werden. Das hätte er ohnehin nicht sehen können in der Dunkelheit. Ich versuche mir positive Gedanken zu verschaffen, um mich nicht der bleiernen Müdigkeit hinzugeben.
Am Verpflegungspunkt Grenzturm Niederneuendorf bei Kilometer 123 bleibe ich rund 20 Minuten. Noch fünf Kilometer bis zum Wechselpunkt beim Ruderclub Oberhavel in Hohenneuendorf. Ich hoffe, dass es dort etwas belebter ist. Ich gönne mir eine Tüte Porridge. Das Gemisch aus feinen Haferflocken, Trockenmilch, Zucker und Vanillearoma löse ich im restlichen Wasser der Trinkflasche auf. Das gibt neue Energie, hoffe ich.
Hohenneuendorf: Essen, trinken, beide Trinkflaschen jeweils zur Hälfte füllen lassen, Pflaster gegen eine drohende Blase am Zeh, und weiter geht es in sehr langsamem Laufschritt schlaftrunken durch die Nacht. Tunnelblick. Hände an die Schläfen. Nicht einschlafen! Weiter.
Verpflegungspunkt Frohnau, Kilometer 132, 5:38 Uhr. Morgendämmerung. Hier gibt es heißen Kaffee. Ich freue mich schon auf den Sonnenaufgang und das Tageslicht. Denn ich weiß, dass die Helligkeit innerhalb von Minuten die Müdigkeit vertreiben kann. Knapp zehn Minuten später schleppe ich mich weiter zur Verpflegungsstation Naturschutzturm, bei Kilometer 139. Es dauert eine Stunde und 19 Minuten, bis ich ihn erreiche. Mir fallen noch immer die Augen zu, obwohl es schon hell ist. Also gönne ich mir erneut eine Runde Dösen. 15 Minuten müssen reichen. Erst als ich mich in der Schutzhütte wieder startklar mache, bemerke ich, dass ich nicht allein bin. Ein Läufer hatte es sich ebenfalls bequem gemacht, aber komplett unter einer Decke verkrochen. Inzwischen ist es richtig hell geworden. Ich peppe meinen Körper mit heißem Kaffee auf. Der wirkt. Im Gehen schlürfe ich die zweite Portion Porridge in mich hinein. Ich vertrage das erstaunlich gut. Die Schläfrigkeit weicht langsam aus meinem Körper. Ich komme wieder zu Kräften. Darüber freue ich mich. Die Abschnitte die ich im Laufschritt unterwegs bin werden immer länger. Jedoch brauche ich eine Stunde bis zum nächsten Verpflegungspunkt an der Oranienburger Chaussee bei Kilometer 144. Nur noch 17 Kilometer bis zum Ziel.
Endlich zündet der Nachbrenner
Als ich von der Toilette am Verpflegungspunkt komme erzählt mir der Standbetreuer, dass ich ab Lübars mit einer Laufbegleitung rechnen könne. Da wäre jemand gewesen und hätte nach mir gefragt. Ich freue mich darauf. Nur leider kann der Betreuer mir nicht sagen, wer das war. Ich gönne mir noch einen weiteren Kaffee und esse eine Kleinigkeit.
„Du solltest dich jetzt auf den Weg machen. In zweieinhalb Minuten greift die Cut-Off-Zeit“, sagt die Helferin am Stand. Denn für jeden Verpflegungspunkt gilt eine bestimmte Uhrzeit, zu der der letzte Läufer ihn verlassen haben muss. Ich bin überrascht, wie viel Zeit ich vertrödelt habe und mache mich sofort auf den Weg. Ich beiße die Zähne zusammen und laufe, steigere langsam das Tempo. Der erste Kilometer tut noch etwas weh in Oberschenkeln und Waden, dann verschwindet der Schmerz. Bald kommt die lange Gerade hinauf zum Verpflegungspunkt des Lauftreffs Lübars an der Blankenfelder Chaussee. Schnell essen, trinken, Wasser nachfüllen, ein Becher Cola. Weiter geht’s im Laufschritt. Jetzt zündet der Nachbrenner! Auf der leicht abschüssigen Strecke werde ich immer schneller. Ich bin begeistert!
Kurz vor dem Märkischen Viertel, nachdem ich die Quickborner Straße überquert hatte, treffe ich Gitta Sens, die im Wanderschritt unterwegs ist. „Wie kann es sein, dass du auf einmal hinter mir bist, wo du doch vorhin noch vor mir warst?“ fragt sie. „Ich musste mal aufs Klo, aber ich kann jetzt wieder laufen. Es geht wieder“, antworte ich mit breitem Grinsen und ziehe an ihr vorbei. Wenig Später hole ich Peer Schmidt-Soltau zusammen mit Claudia Cavaleiro ein, die gehend unterwegs sind, ziehe an ihnen vorbei, rufe begeistert: „Es geht wieder! Ich kann wieder laufen!“
Wilhelmsruh, nur noch sechs Kilometer. „Das ist weniger als meine Laufrunde nach Zeuthen und zurück“, schießt es mir durch den Kopf. Das macht mir Mut weiter durchzuhalten. Dennoch werde ich wieder langsamer, bis ich den Verpflegungspunkt Wollankstraße erreiche. Das macht mir aber nichts aus, denn ich weiß, ich werde im Ziel ankommen. Es sind ja nur noch knapp drei Kilometer.
Es kommt mir vor, als vergingen die letzen Kilometer wie im Fluge, obwohl ich den siebener Schnitt nicht mehr halten kann. Egal. Ein kurzes Stück Mauerpark, abbiegen aufs Stadiongelände. Dann höre ich schon die Moderation. Noch eine Dreiviertel Runde auf der Tartanbahn, Zieltor, Applaus. Ich selbst mit breitem Grinsen im Gesicht. Absolute Freude, die 160,9 Kilometer tatsächlich geschafft zu haben!
Ein großer Dank gilt vor allem den rund 400 Helferinnen und Helfern, die an Verpflegungspunkten, im Stadion, bei der Startnummernausgabe, als Fahrradpatrouille und bei der Siegerehrung tatkräftig angepackt haben. Ohne sie wäre das Laufabenteuer 100MeilenBerlin gar nicht möglich!